Round-Table-Diskussion über die Notwendigkeit der globalen Sicherstellung von Bildung.
Virtuelle Round-Table-Diskussion mit den Teilnehmern:
- Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lutz, Leiter des Instituts für Demografie, Universität Wien
- Mag.a Patrizia Jankovic, Generalsekretärin der Österreichischen UNESCO-Kommission
- Gloria Boateng, Bildungsaktivistin, Moderatorin und Buchautorin, Trägerin des Verdienstordens der Republik Deutschland
- Mag. (FH) Thomas Motsch, Fondsmanager „Nachhaltige Investments“, Raiffeisen KAG
Mag. (FH) Dieter Aigner
Geschäftsführer Raiffeisen KAG und Moderator der Diskussion

Dieter Aigner: Herr Univ.-Prof. Lutz, wohin entwickelt sich die globale Bevölkerung und was sind bzw. waren die wichtigsten Einflussfaktoren für die Entwicklung?
Wolfgang Lutz: Die Menschheit hat in den letzten 100 bis 120 Jahren sehr viele Veränderungen durchgemacht. Die fundamental wichtigste Entwicklung war, was wir als demografischen Übergang bezeichnen. Dieser setzte in Europa Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Sinken der Sterberaten ein. Bis dahin war die Gesellschaft immer wieder Hungersnöten und Kriegen ausgesetzt. Die Lebenserwartung war viel niedriger. In dieser Zeit waren weder Sterblichkeit noch Geburtenraten in irgendeiner Weise kontrolliert. Lediglich die Ehe war sozusagen ein Korsett, das das Kinderkriegen beschränkte, auch wenn viele Kinder geboren wurden. Eine selbstbestimmte Geburtenkontrolle gab es meist nicht. Ähnliches sehen wir heute in weniger gut entwickelten Ländern Afrikas, wie Mali oder Niger, wo 70–80 % der Frauen Analphabetinnen sind und nie die Chance hatten, in eine Schule zu gehen. Diese Länder wachsen aus demografischer Sicht mehr oder weniger unkontrolliert, sie stehen heute dort, wo Europa im 19. Jahrhundert gestanden ist.
Was hat den Änderungsprozess in Europa herbeigeführt?
Wolfgang Lutz: In erster Linie war es eine bessere Ernährungslage, aber auch ein größeres Wissen über Gesundheit und Hygiene. Frühe Formen von Impfungen gegen Pocken und Cholera haben zu einem rapiden Rückgang der Sterberaten geführt. Allerdings bei unverändert hohen Geburtenraten, weil eine hohe Anzahl an Kindern auch kulturell normiert war. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis auch die Geburtenraten gesunken sind. Modernisierung, Wirtschaftswachstum, Urbanisierung und natürlich die Erwerbstätigkeit der Frauen haben eine große Rolle in dem Prozess gespielt. Aber der entscheidende Faktor war die zunehmende Bildung von Frauen. Diese hat zur Aufgabe der fatalistischen Sicht geführt, keine eigenen Entscheidungen treffen zu können, sondern ermutigt, selbst die Kontrolle in Bezug auf Geburten zu übernehmen. Von da an ist auch die Geburtenrate gesunken.
Sie haben Afrika angesprochen. Steht der Kontinent heute vor diesem demografischen Übergang?
Wolfgang Lutz: Dort, wo die Sterberate schon niedrig ist, aber die Geburtenraten noch hoch sind, wächst die Bevölkerung extrem stark. Das ist derzeit hauptsächlich in West- und Ostafrika der Fall. Jede Afrikanerin dort bekommt durchschnittlich 5 bis 6 Kinder. Und das bringt natürlich – so wie das in Europa auch der Fall war – andere Schwierigkeiten mit sich: fehlende ökonomische Versorgung, zu wenige Jobs etc. Das führt zu einem Auswanderungsdruck. All das hatten wir ja auch hier in Europa im 19. Jahrhundert, als die Menschen nach Übersee ausgewandert sind. Heute betrifft es Afrika. Das heißt, wir müssen Frauen Bildung ermöglichen, damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Das ist der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lutz
Leiter des Instituts für Demografie, Universität Wien
Die UNESCO treibt seitens der Vereinten Nationen das Thema Bildung voran. Was passiert hier?
Patrizia Jankovic: Für die UNESCO ist Bildung ein Menschenrecht. In der Realität ist dieses Recht aber längst nicht für alle gegeben. Noch nie war es so wichtig, sicherzustellen, dass alle Menschen den gleichen Zugang und die gleichen Chancen in Bezug auf Bildung erhalten. Die Welt steht vor enormen Herausforderungen: disruptive Technologie, Klimawandel, Migrationsbewegungen, Intoleranz und Hass. Diese Herausforderungen vergrößern die Ungleichheit noch mehr. Covid-19 hat gerade auch im Bildungsbereich die Schwächen offengelegt. Unsere Gesellschaft hat mehr denn je die kollektive Verantwortung, benachteiligte Menschen zu unterstützen und sie nicht zurückzulassen.
Wie viele Kinder und Jugendliche werden aber dennoch zurückgelassen?
Patrizia Jankovic: Aktuell sind – das hat die UNESCO erhoben – mehr als 90 % der Lernenden aufgrund von Covid-19 von Schulschließungen betroffen. Rund 258 Millionen Kinder, Heranwachsende und Jugendliche auf der ganzen Welt besuchen keine Schule. Gerade sozial Schwache sind dem Risiko von Lernverlust und Schulabbrüchen besonders ausgesetzt. Der aktuelle Weltbildungsbericht der Vereinten Nationen, der jedes Jahr erscheint und Maßnahmen in dem Bereich dokumentiert, zeigt eindrücklich, dass nach wie vor Identität, Herkunft und Befähigung die Bildungschancen bestimmen. Und in allen Ländern – außer in jenen mit hohen Einkommen in Europa und in Nordamerika – sehen wir, dass im Vergleich der 100 reichsten Jugendlichen nur 18 der ärmsten Jugendlichen die Sekundarschule abschließen. Das sind schon gravierende Zahlen.
Mag.a Patrizia Jankovic
Generalsekretärin der Österreichischen UNESCO-Kommission

Diese Zahlen haben in Ihrem Wirkungsbereich, Frau Boateng, auch konkrete Namen. Sie unterstützen und motivieren Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Schichten in Hamburg darin, ihre Bildungschancen wahrzunehmen. Welche Erkenntnisse haben Sie aus Ihrer Arbeit gewonnen?
Gloria Boateng: Wenn wir an Bildung und Bildungschancen denken, haben wir oft – so meine Erfahrung – den Schulsektor vor Augen. Die Schule ist aber nur der institutionalisierte Rahmen der Bildung. Bildung ist so viel mehr als „nur“ Schule. In Deutschland ist die Bildungserfolgschance wie in kaum einem anderen industrialisierten Land signifikant mit der Herkunft und dem Bildungshintergrund der Eltern verbunden, und es gelingt uns kaum, diese Korrelation zu entkoppeln. Das heißt aber auch, bis ein Kind in die Schule kommt, ist unter Umständen schon entschieden, wie hoch die Bildungserfolgschancen in Zukunft sein werden. Denn nicht nur hängen diese von den Eltern ab, viel schlimmer ist, dass ebendiese Kinder durch unsere Schulsysteme zusätzlich benachteiligt werden.
Können Sie das bitte kurz erläutern?
Gloria Boateng: Bildungsarmut verdeckt Talente. Wenn ein Kind bildungsfern aufwächst, fehlt diesem Kind nicht nur Fachwissen in Bezug auf bestimmte Fächer, es fehlt ihm auch das Netzwerk, auf das es später zurückgreifen kann. Es fehlt ihm ein wichtiger Teil des sozialen Codes, es fehlen ihm Partizipationsmöglichkeiten, Anerkennung und dadurch Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Ich könnte die Liste noch lange weiterführen. Wenn wir Bildung fördern wollen, dann müssen also viele Ebenen der Bildung bedacht werden. Deshalb ist es meiner Einschätzung nach wichtig, dass schulische und außerschulische Player zusammenarbeiten. Dann geht es darum, möglichst allen Kindern Zugang zu institutionalisierter Bildung zu verschaffen, aber auch darum, sie dabei zu unterstützen, sich selbst zu begreifen sowie das Gefüge unserer Gesellschaft zu verstehen und die Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben. Und nicht zuletzt ist es wichtig, sie dabei zu unterstützen, ihre Möglichkeiten zu sehen und zu nutzen.
Wie verändert Bildung die Lebenswege und Entscheidungen von Menschen?
Gloria Boateng: Bildung ist der Schlüssel, der alle Türen zu öffnen vermag, der dazu führt, dass ein Mensch selbstbestimmt Entscheidungen treffen kann. Alles hängt davon ab: Wie eine Person sich ernährt, welchen Beruf sie ausüben kann, wie gesund sie ist, wie viel ökonomisches Kapital sie aufbauen kann etc. Und eben auch wie viele Kinder sie in die Welt setzt. Einfach alles. Wirkliche Wahlfreiheit im Leben geht einher mit Bildung. Ohne Bildung ist eine Person nur eingeschränkt handlungsfähig und fremdbestimmt.

Gloria Boateng
Bildungsaktivistin, Moderatorin und Buchautorin, Trägerin des Verdienstordens der Republik Deutschland
Steckt in der Digitalisierung, die aufgrund von Covid-19 global einen enormen Schub bekommen hat, auch die Chance, Bildung in ländlichen Gebieten Afrikas zu befördern – Stichwort Internet?
Wolfgang Lutz: Theoretisch hätte sie das Potenzial. In der Praxis deutet aber vieles darauf hin, dass die zunehmende Digitalisierung die Polarisierung der Gesellschaft weiter verstärkt. Schon hierzulande zeigt sich, dass es für sozial Schwächere ein Problem ist, wenn sie nicht in die Schule können und Covid-19 in dem Zusammenhang die Ungleichheit vergrößert. Viel schlimmer ist es aber noch in Afrika. Die Schulschließungen in Afrika sind meiner Meinung nach die langfristig negativste Folge von Covid-19. In einigen afrikanischen Ländern sind seit einem Jahr alle Schulen geschlossen. Und wir wissen genau, dass die Schule dort für junge Mädchen der einzige Weg ist, sich zu emanzipieren und später ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Weg zurück in die Schule wird für diese Mädchen ex-trem schwierig und für viele wahrscheinlich unmöglich. Ich befürchte, das wird zu mehr ungewollten Schwangerschaften führen und in der Folge zu einer langsameren Abnahme der Geburtenraten.
Patrizia Jankovic: Leider kann und muss ich das ebenfalls unterstreichen. Das Geschlecht bestimmt nach wie vor die Chancen und wir sehen in mindestens 20 Ländern der Subsahara, dass kaum eine arme junge Frau aus dem ländlichen Raum die Sekundarschule abschließt. Und dieser Trend wird sich durch Covid-19 leider noch verstärken. Die Erfahrungen – zum Beispiel im Zusammenhang mit Ebola – haben gezeigt, dass das Gesundheitswesen viele Menschen zurücklässt, und das betrifft vor allem viele arme Frauen aus ärmeren Gegenden. Die Kinder, die vor der Pandemie in die Schule gegangen sind, werden nach der Pandemie wahrscheinlich nicht mehr in die Schule zurückkehren. Die Zahlen sind alarmierend. Man kann davon ausgehen, dass es 11 Millionen Mädchen betrifft.
Sie sind in Ghana geboren und vermutlich gut nach Afrika vernetzt. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Gloria Boateng: Ich gebe Herrn Lutz darin Recht, dass die zunehmende Digitalisierung eine größere Polarisierung der Gesellschaften mit sich bringt und viele Menschen dadurch noch mehr abgehängt werden, als sie es ohnehin schon sind. Auch ist es richtig, dass in vielen afrikanischen Ländern nach wie vor vor allem die Mädchen in Bezug auf Bildungsförderung stark benachteiligt werden. Ghana ist in puncto Bemühungen, institutionelle Bildung flächendeckend anzubieten, für viele afrikanische Menschen und Länder ein Vorbild. Ein großer Schritt war es, als die Primary und Junior Secondary Schools quasi nicht mehr kostenpflichtig waren. Ich sage quasi, weil Schulmaterialien und -uniformen immer noch selbst zu finanzieren waren, und selbst das konnten sich viele Familien nicht leisten. Es gingen also mehr Kinder bis etwa zur 8./9. Klasse zur Schule, aber einige wurden dennoch ausgeschlossen. Erst recht diejenigen Kinder und Jugendlichen, die als Arbeiterinnen und Arbeiter von ihren Familien gebraucht wurden, meistens waren das Mädchen. Seit 2017 ist auch die Senior Secondary School kostenlos. Ein weiterer wichtiger Schritt. Aber nur ca. 18 % der Jugendlichen erhalten eine tertiäre Bildung, besuchen also die Universität oder eine vergleichbare Hochschule. In Deutschland waren es 2020 über 54 %. In Ghana sind es also 18 % und damit weitaus mehr als zu der Zeit, als ich dort aufgewachsen bin. Denn viele der Absolventinnen und Absolventen oder Post-Graduierte finden keine angemessene Anstellung oder können sich das Studium in ihrem Land nicht leisten und verlassen – wie viele andere junge Erwachsene zum Beispiel aus Kamerun oder anderen Ländern – ihr Heimatland, um im Ausland, oft in Europa, (nochmals) zu studieren. Sie kehren meistens nicht wieder zurück. Die afrikanischen Länder verlieren auf diese Weise einen Teil ihrer besten Absolventinnen und Absolventen.
Warum ist das so?
Gloria Boateng: Ein Grund ist meines Erachtens der, dass viele afrikanische Länder in einem postkolonialen Zeitalter leben, in dem ihnen weiterhin ein sehr enges Korsett umgelegt wird. Die Länder haben hohe Schulden, und diese sind hoch verzinst. Sie heben deshalb hohe Steuern ein, um wenigstens die Zinsen aufbringen zu können und den Geldgebenden zu zeigen „Hey, wir können das, wir schaffen das“. Hohe Zinsen zwingen aber Wirtschaften und Innovationsmöglichkeiten in die Knie, Investitionen können nur im kleinen Maße entstehen. Dadurch fehlen Jobs und das führt zu Abwanderung bzw. Bildungsflucht. Das ganze Thema ist so komplex, dass es diesen Rahmen sprengt. Aber es ist Zeit für einen Schuldenerlass für diese Länder. Zeit für einen fairen Welthandel auf Augenhöhe. Es ist Zeit, dass die Industrienationen von ihrem hohen Ross runterkommen.
Mag. (FH) Thomas Motsch
Fondsmanager „Nachhaltige Investments“, Raiffeisen KAG

Welchen Beitrag kann die Finanzwirtschaft hier leisten. Wie könnten Investoren Bildungsmaßnahmen vorantreiben?
Thomas Motsch: Die direkten Möglichkeiten – beispielsweise über Social Bonds – zu investieren, sind für uns derzeit sehr beschränkt bzw. nicht vorhanden. Weil es diese Instrumente im Bereich der Bildung in viel zu geringem Ausmaß gibt. Daher ist es für uns schwierig, einen passenden Hebel zu finden. Wir konzentrieren uns deshalb im Rahmen unserer nachhaltigen Investments auf Unternehmen – aber auch Staaten –, die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen fördern und Maßnahmen für Bildungschancen setzen. Bei den Unternehmen hinterfragen wir auch, ob Talente im Betrieb unterstützt und ausgebildet werden. Denn das bedeutet meist auch, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Perspektiven zu bieten. Auf Staaten-Ebene analysieren wir, wie die Regierung zum Thema Bildung steht, welchen Stellenwert dieser eingeräumt wird und welche Bildungsmaßnahmen gesetzt werden. Das sind wesentliche Faktoren bei unserer Gesamteinschätzung. Natürlich müssen diese Unternehmenstitel und Staatsanleihen, in die wir investieren, auch aus finanzieller Sicht attraktiv sein.
Kann man mit dem Investment etwas bewirken, und wie lässt sich das messen?
Thomas Motsch: In den vergangenen Jahren haben wir uns speziell mit dem Thema Impact-Messung beschäftigt, das beim nachhaltigen Anlegen immer stärker zum Tragen kommt. Dabei geht es darum, zu messen, welche Auswirkungen mein Investment hat. Und da sind die Sustainable Development Goals, also die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, ein passender Rahmen, an dem man sich als Investor orientieren kann, um zu sehen, wo Unternehmen positive Wirkung mit ihren Produkten entfalten können. Als Ziel 4 wird dort „Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern“ definiert. An diesem Ziel können wir Unternehmen und Staaten messen.
Auf dem Markt gibt es sehr viel Geld, aber es fehlen noch geeignete Finanzierungsinstrumente, um dieses Geld in entsprechende Bahnen zu leiten. Social Bonds wurden bereits angesprochen …
Thomas Motsch: Als Fondsmanager stehe ich täglich vor der Entscheidung, in welche Themen, Unternehmen und Staaten ich investiere. Wie kann ich das von den Anlegerinnen und Anlegern zur Verfügung gestellte Kapital nachhaltig und Ertrag bringend veranlagen. Beim Thema Bildung sehen wir uns – abseits der börsennotierten Unternehmen – auch Entwicklungsbanken und Staaten an. Was ich mir als Investor aber wirklich wünschen würde, sind mehr Social-Bonds-Emissionen. Also Anleihen, die ganz konkret soziale Projekte – wie beispielsweise Bildungsprojekte – finanzieren. Es gibt sicher einige Nachfrage nach solchen Anleihen. Nicht nur wir würden in diese Bonds investieren und so ganz gezielt eine positive Wirkung erzielen.
Die Bildungspolitik ist die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts.
Wenn wir beim Wünschen bleiben, was steht da auf Ihren Listen ganz oben?
Wolfgang Lutz: Die Bildungspolitik ist die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts. Hierzulande macht man sich Sorgen über die sogenannte Überalterung der Bevölkerung, dass zu wenig junge Menschen da sind. Gleichzeitig vergeuden wir aber diese Humanressourcen, indem wir bei der Bildung nicht in die richtigen Maßnahmen investieren. Mehr als ein Fünftel unserer Schülerinnen und Schüler kann nicht sinnerfassend lesen. Wie sollen diese Menschen in einer wissensbasierten Gesellschaft einen Job finden? Das sind die Sorgenkinder unserer Zukunft. Die wichtigsten Zukunftsinvestitionen, auch in Österreich, sind nicht nur die in Spitzenforschung und Spitzentechnologie, sondern auch die in die breite Bildung der gesamten Bevölkerung. Denn sonst bekommen wir das, was manche als Bildungsproletariat bezeichnen. Und das wird unserer Gesellschaft in jeder Hinsicht auf den Kopf fallen.
Patrizia Jankovic: Ich kann mich dem nur anschließen: Bildung ist der Schlüssel für alles. Wenn es nach den Vereinten Nationen geht, soll bis zum Jahr 2030 allen chancengleiche Bildung zur Verfügung gestellt werden. In Österreich hat man dieses Bildungsziel für nachhaltige Entwicklung zwar in den Lehrplänen verankert, aber das reicht längst nicht aus. Österreich braucht eine stichhaltige Gesamtstrategie zur Umsetzung. Derzeit gibt es – sehr fragmentiert – Anstrengungen von NGS* und verschiedenen Universitäten, in diesem Sinne zu arbeiten, aber da braucht es noch viel mehr.
Gloria Boateng: Haben Sie schon mal gehört oder gelesen, dass sich nach einer Wahl die Kabinettsmitglieder darüber streiten, wer das Bildungsministerium oder die -behörde übernimmt? Ich nicht. In Deutschland und vielen Ländern der Welt wird Bildung stiefmütterlich und als lästiges Accessoire des gesellschaftspolitischen Lebens behandelt. Das ist ein Desaster. Deshalb kommen wir da auch kaum voran. Wir verwalten, aber wir gestalten nicht aktiv und schon gar nicht innovativ und zukunftsorientiert. Deshalb müssen wir von Krisen wachgerüttelt werden wie jetzt von der Corona-Pandemie. Mein Wunsch: ein Aufwachen! Ein Erkennen, dass Bildung an erster Stelle stehen muss, weil alle anderen Bereiche davon abhängen. Ein Erkennen, dass eine ganze Gesellschaft bestmöglich gebildet sein muss und nicht nur einige wenige, denn die Gesellschaft ist auf die Potenziale aller Menschen angewiesen. Ich möchte einmal Wortgefechte erleben, mit denen Politikerinnen und Politiker sich um das Bildungsministerium streiten.
Erfahren Sie mehr in unserem Nachhaltigkeitsmagazin NACHHALTIG INVESTIEREN – Ausgabe 31 zum Thema Demografischer Wandel.
* Neue Grundschulen
Fotos: Miguel Ferraz, iiasa, Pia Morpurgo, UNESCO