Interview mit Univ.-Prof. Dr. Manfred Nowak, LL.M.
Vizepräsident der österreichischen UNESCO Kommission, Leiter des „Vienna Master of Arts in Human Rights“ an der Universität Wien, Co-Direktor des „Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte“, Generalsekretär des „European Inter-University Centre for Human Rights and Democratisation” und führender UN-Experte der „Global Study on Children Deprived of Liberty“

Bildung ist die Basis für ein gutes Leben. Doch weltweit haben 264 Millionen Kinder und Jugendliche keinen Zugang zu Bildung.1 Wie schaffen wir es, für alle Menschen eine chancengerechte und hochwertige Ausbildung sicherzustellen? Wir haben den Vizepräsidenten der österreichischen UNESCO-Kommission und Menschenrechtsexperten Manfred Nowak dazu befragt.
Die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen widmet ihr 4. Ziel dem Thema Bildung. Was bedeutet Bildung für den Menschen?
Bildung ist schon 1966 im UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und 1989 in der UN-Kinderrechtskonvention als Menschenrecht verankert worden. In der Agenda 2030 steht sie als ein nachhaltiges Entwicklungsziel. Bildung ist die Basis für eine Reihe anderer Menschenrechte, wie beispielsweise das Recht auf Arbeit, die Meinungs- und Informationsfreiheit oder das Recht auf politische und kulturelle Partizipation. Das Bildungsziel der Agenda lautet konkret: Bis 2030 für alle Menschen eine inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern. Regierungen weltweit haben sich dazu verpflichtet, die globalen Nachhaltigkeitsziele zeitgerecht zu erfüllen. Die UNESCO koordiniert die Umsetzung dieses Bildungsziels und ist für das Monitoring verantwortlich.
Wie gelingt es, eine chancengerechte und hochwertige Bildung für alle Menschen sicherzustellen?
Bildung ist ein öffentliches Gut und liegt in erster Linie in der Verantwortung der Regierungen. Schulen, Lehrkräfte und Eltern sind allerdings ebenso gefordert, ihren Beitrag zu leisten. Doch in erster Linie gibt die Politik das Handeln vor. Nur wenn Regierungen auf der ganzen Welt entsprechende Rahmenbedingungen für eine hochwertige Bildung sicherstellen, können Lehrkräfte professionell unterrichten und bekommen Schülerinnen und Schüler eine angemessene Ausbildung. Doch oft sind die Bildungssysteme unzureichend. Regierungen müssen daher die Verantwortung für eine chancengerechte und hochwertige Bildung übernehmen. Die zunehmende Verlagerung der Schulbildung in den privaten, kommerziellen Bereich widerspricht diesem Auftrag.
Wie lässt sich messen, ob Regierungen diesem Auftrag nachkommen?
In erster Linie mit Daten, die Regierungen an die UNESCO rückmelden müssen. Hier müsste man noch weitere Indikatoren schaffen, da die bestehenden teilweise nicht ausreichen. Dabei geht es unter anderem um die Anzahl von Schülerinnen und Schülern, Lehrpersonal, Dropout-Quoten, Einschulungszahlen, Schulabschlüsse etc. Wie viel Geld, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, fließt ins Bildungssystem? Der UNESCO-Weltbildungsbericht wertet diese Zahlen aus und gibt Aufschluss über die Fortschritte. Er zeigt aber auch, dass wir derzeit leider noch weit entfernt von den angestrebten Zielen sind.
Können Sie uns einen kurzen Überblick geben?
264 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren haben weltweit keinen Zugang zu Bildung. Selbst bei den Kindern, die eine Schule besuchen, sind die Abschlussraten weiterhin gering: zwischen 2010 und 2015 lagen sie im Grundschulbereich, bei den 6- bis 11-Jährigen, bei lediglich 83 %, im unteren Sekundarschulbereich, der die 12- bis 14-Jährigen betrifft, bei 69 % und in der oberen Sekundarschulbildung – 15-17 Jahre – bei nur 45 %. Die Grundlagen für eine erfolgreiche Bildungsbiographie werden bereits in der frühen Kindheit gelegt. Doch bisher haben nur 17 % der Länder weltweit ein Jahr verpflichtende und kostenfreie frühkindliche Bildung eingeführt. Erhebungen in Entwicklungs- und Schwellenländern zeigen, dass zwischen 2010 und 2015 die Chancen von drei- bis vierjährigen Kindern, eine frühkindliche Bildungseinrichtung zu besuchen, bei den Reichsten fünfmal so hoch waren wie bei den Ärmsten. In nur 66 % der Länder weltweit wurde Geschlechtergerechtigkeit in der Grundschulbildung erreicht. Noch geringer sind die Erfolge in der Sekundarschulbildung: Geschlechtergerechtigkeit wurde im Bereich der unteren Sekundarklassen in lediglich 45 % der Länder und in den oberen Sekundarklassen gar nur in 25 % der Länder weltweit durchgesetzt.
Bildung ist ein öffentliches Gut und liegt in erster Linie in der Verantwortung der Regierungen. Schulen, Lehrkräfte und Eltern sind allerdings ebenso gefordert, ihren Beitrag zu leisten. Doch in erster Linie gibt die Politik das Handeln vor.
Wo kann man ansetzen, um Bildung für mehr Menschen zugänglich zu machen?
An erster Stelle sind hier die staatlichen Investitionen ins Bildungssystem zu nennen. Diese müssen erhöht werden. Jährlich fehlen weltweit 39 Milliarden US-Dollar für eine hochwertige und chancengerechte Bildung. Im Durchschnitt geben Länder 4,7 % ihres Bruttoinlandproduktes oder 14,1 % der öffentlichen Mittel für Bildung aus. Das ist zu wenig. Die Abschaffung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt, der in Konfliktregionen noch stärker zum Tragen kommt. Auch die Schaffung kinderfreundlicher Einrichtungen ist essentiell – nicht nur hinsichtlich der schulischen Infrastruktur, sondern auch betreffend Sicherheit und Gewaltfreiheit. Darüber hinaus könnten verbesserte Möglichkeiten von Fernunterricht, Online-Kursen und Blended Learning – einer Mischung aus klassischem Unterricht und computergestütztem Lernen – viel dazu beitragen, Bildung für mehr Menschen zugänglich zu machen. Auch die Lehrerausbildung ist sehr wichtig. Der Lehrberuf sollte wieder attraktiver gemacht werden. Lehrkräfte sind oft schlecht bezahlt und müssen mit neuen Technologien umgehen können. Es ist gut möglich, all diese Ziele zu erreichen, wenn man Ressourcen dafür schafft. Dazu braucht es Innovationen und ein ganzheitliches Verständnis des Themas.
Wo steht das österreichische Bildungssystem in Bezug auf die Agenda 2030?
Obwohl der Zugang zu Bildung in Österreich grundsätzlich sehr gut ist, hat das System seine Schwachstellen und in Bezug auf die „Agenda 2030“ noch Nachholbedarf. Dieser betrifft die Sicherstellung inklusiver Bildung: Noch immer fehlt in Österreich eine Gesamtschule bis zum 14. Lebensjahr, wie sie in anderen Ländern schon lange mit Erfolg praktiziert wird und von Expertinnen und Experten auch hierzulande gefordert wird. Diese Tendenz zur Segregation zeigt sich darüber hinaus im Weiterbestand von Sonderschulen für Kinder mit Behinderungen. Auch Flüchtlinge und MigrantInnen werden aufgrund zu weniger Integrationsklassen nicht angemessen inkludiert. Ideologische Konflikte, Machtinteressen und der Föderalismus stehen notwendigen Veränderungen unseres veralteten Schulsystems im Weg. Größere Reformen bedürfen aufgrund der österreichischen Verfassung einer Zweidrittelmehrheit im Nationalrat. Auch sollten manche Schulfächer auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden. Ein verpflichtendes Fach „Politische Bildung“ statt eines bloßen Unterrichtsprinzips „Menschenrechtsbildung“ oder „Demokratiebildung“ könnte junge Menschen dazu motivieren, mehr Verantwortung, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Welt zu übernehmen. Das täte unserer Gesellschaft jedenfalls gut.
1UNESCO-Weltbildungsbericht 2017/2018
Foto: Universität Wien