„Come on! – Wir sind dran!“
Als Umweltwissenschaftler, Politiker und nicht zuletzt als Co-Präsident des Club of Rome möchte ich meine Überlegungen mit dem Aufruf beginnen: „Come on! – Wir sind dran!“. Die Lage, in der sich die Erde momentan befindet – bedingt durch unsere menschlichen Eingriffe – lässt kein weiteres Warten zu. „Come on!“, so heißt auch der neueste große Bericht an den Club of Rome, auf Deutsch: „Wir sind dran!“. Der Untertitel bringt unser Anliegen auf den Punkt: „Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt.“
Dr. rer. nat. Ernst Ulrich Michael Freiherr von Weizsäcker, deutscher Naturwissenschaftler und Politiker, ist neben zahlreichen anderen Funktionen seit 2012 Co-Präsident des Club of Rome.

Schon im Bericht zur Lage der Menschheit „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) prognostizierte der Club of Rome eine veritable Krise des Weltsystems, falls nicht kräftig korrigierend eingeschritten würde. Seitdem hat sich zwar viel verändert, doch die Trends laufen noch immer in den Kollaps: Zunahme der Weltbevölkerung, Klimaveränderung, voranschreitende Industrialisierung, Umwelt-, Wasser- und Ozeanverschmutzung, hunderttausender von Tier- und Pflanzenarten. Das alles hält unverändert an. So werden wir mit Sicherheit die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe des 21. Jahrhunderts erreichen.
In „Wir sind dran“ fordern wir eine neue Aufklärung. Die großartige Aufklärung zu Kants Zeiten spielte vor 250 Jahren in der „leeren Welt“, wo die Menschheit klein, die Natur riesengroß war. In der heutigen „vollen Welt“ mit beinahe schon acht Milliarden Menschen ist es umgekehrt. Da ist zwar weiterhin Vernunft und wissenschaftliche Wahrheitssuche gefragt, aber zugleich müssen Expansionismus, Schnelligkeitsrausch und Sozialdarwinismus gebremst werden. Und wir müssen an tausend Stellen nach Balance streben. Zum Beispiel Balance zwischen Markt und Staat, zwischen Innovation und Stabilität, zwischen Kurzfrist und Langfrist und vor allem zwischen Mensch und Natur.
Die Grenze zwischen Analyse und Angstmacherei ist fließend und manchmal weiß man gar nicht, ob es sie überhaupt gibt. Mit Freude und Neugierde beobachte ich deshalb viele positive Entwicklungen in der Welt. Es gibt Schönes und Bemerkenswertes, das sich in den letzten Jahren tut, wenn sich Menschen und Unternehmen aufmachen, um die vielbesprochene „ethisch-nachhaltige Verantwortung“ zu leben: von beherzten Einzelprojekten in Nischen bis hin zu großen Gemeinschaftsanstrengungen wie den Globalen Nachhaltigkeitszielen.
Es ist auch bemerkenswert, dass wir gerade erleben, wie der schlafende Riese, die Finanzindustrie, in Bezug auf seine Verantwortung für eine enkeltaugliche Welt erwacht. Lange Jahre habe ich auf diesen Augenblick gewartet. Nachhaltiges Investieren ist zum Schlagwort einer Branche geworden, die sich bis dato mit Zukunftsfähigkeit eher schwergetan hat. Immer mehr Banker und Investoren erkennen, dass ihr Hebel ungleich größer ist, wenn es ums Gelingen der bevorstehenden Nachhaltigkeitswende geht.
Die Wellen der Nachhaltigkeitsaufklärung haben nun auch die Küsten der Finanzjongleure erreicht. Immer mehr wird reflektiert und verstanden, dass die Art und Weise wie Geld eingesetzt und verwendet wird, unmittelbarer Ausdruck des Bewusstseins, der Werte und Haltungen ist. Wer will sich denn von seinen Enkelkindern nachsagen lassen, die Welt mit seinen Entscheidungen und „Investitionen“ zerstört zu haben? Wer nimmt schon Klimawandel, Artensterben und Menschenrechtsverletzungen auf die eigene Kappe?
Seit Jahren fordere ich, dass die Preise die ökologische Wahrheit sagen müssen. Ich meine damit, dass wir die Folgekosten für ökologisch zerstörerisches Wirtschaften in den realen Kosten der Produkte und Dienstleistungen einrechnen müssen. Wir verfügen über genügend Wissen und haben alle erforderlichen Parameter, das auch zu tun. Heute geht es nicht mehr ums Wissen, es geht ums Wollen, ums breit getragene, politische Wollen, damit wir die Schönheit und Vielfalt der Welt, wie wir sie kennen, erhalten oder wieder herstellen können.
Heute muss man Daten zur Kenntnis nehmen, wonach die Weltbevölkerung weiter wächst, sie natürlich mehr Primärenergie, Wasser und Dünger verbraucht und dabei mehr CO2 ausstößt, mehr Stickoxide, mehr Methan. Die Nitratbelastung der Küstengewässer nimmt zu, Meere versauern, Regenwälder schrumpfen, die Oberflächentemperaturen steigen. Die Zahl der Menschen, Rinder, Hühner und Schweine, der Sojabohnen und Maiskolben, der Autos, Häuser, Kühlschränke und Handys – alles ist im letzten Jahrhundert exponentiell gewachsen.
Wasser ist hier ein veritabler Spiegel für die Nachhaltigkeit unserer Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme. An vielen Orten der Erde ist brauchbares Trinkwasser zu einem kostbaren Gut geworden. Ganze Regionen oder Millionenstädte wie Kapstadt leiden seit Jahren an Dürre und Wassermangel. Wohingegen andere Weltregionen immer mehr mit sintflutartigen Sturzregen und Überflutungen zu kämpfen haben. Die Wasserqualität ist durch Agrar-Chemikalien, Düngemittel und Schadstoffe in vielen Ländern auf erbärmlichem Niveau und die Ozeane sind zur globalen Mülldeponie verkommen. Das „Weiter wie bisher“ bringt mehr Schaden als Nutzen. All das ist bekannt. Ja, die Menschheit ist in Gefahr! Doch ist das alles unaufhaltsam? Nein!
„Wir sind dran!“. Die Verhaltensweisen und Formen des Wirtschaftens, die nicht nachhaltig sind und den Planeten gefährden, müssen sich ändern. Es braucht Preise, gerade auch für alle natürlichen Ressourcen wie Lebensmittel, Wasser und Energie, die die Wahrheit sagen – sowohl über die internen Entstehungs- und Produktionskosten, als auch über die externen ökologischen und sozialen Folgekosten – zum Beispiel in Bezug auf Treibhausgasemissionen, Bodenzerstörung und Artensterben. Die bewiesenermaßen zerstörerische konventionelle Landwirtschaft würde mit dem neuen Preissystem große Verluste einfahren. Umstellung ist aber möglich, und Produkte aus einer naturnahen, ökologischen und Landbewirtschaftung wären erschwinglich auch für arme Haushalte.
Änderung ist machbar! Das belegen weltweit zahlreiche gute Beispiele. Deshalb muss sich auch das Investitionsverhalten ändern. Wir müssen in das natürliche Kapital investieren, das nun der knappe Faktor ist. Im Fall der Fischerei sollten wir den Fang reduzieren, damit sich die Bestände erholen und später wieder höhere Fänge möglich werden. Es gibt damit auch so etwas wie eine „ökonomische Wachstumsgrenze“, wenn wir die „ökologische Wachstumsgrenze“ nicht überschreiten wollen. Doch gäbe es kein Wachstum, kann es sehr rasch zu sozialen Konflikten und zu Katastrophen kommen. Insofern muss man aufpassen. Und man darf auch nicht einfach Anti-Wachstum predigen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist hier kein ausreichender Maßstab. Es lässt keine Rückschlüsse auf die Zufriedenheit der Menschen zu. Das BIP ist kein Glücksmaßstab. Ein gelingendes, ein „gutes Leben für alle“ kann nicht allein mittels finanziellen Maßzahlen abgebildet werden. Hier brauchen wir eine „neue Aufklärung“! Darum geht es auch im neuen Bericht an den Club of Rome. Die aufklärerischen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts gehören im Sinne eines Gleichgewichts relativiert und neu interpretiert. Die Entdeckung der menschlichen Werte des Individualismus, des Privateigentums, des Schutzes gegen staatliches Eindringen gehört zu den wertvollsten Errungenschaften der europäischen Aufklärung. Heute sehen wir aber öffentliche Güter weit stärker gefährdet als Privatgüter.
Es geht um Artenvielfalt, das Wasser, das Klima und konkrete Dinge wie die öffentliche Infrastruktur, die unterfinanziert ist, wenn Unternehmen ihre Gewinne in Steuerparadiese verschieben. Und es geht um Verhaltensweisen und die Möglichkeit, eine Balance zu finden zwischen Geschwindigkeit und Stabilität oder zwischen Gleichheit und Leistungsanreiz.
Die Botschaft „Änderung ist machbar“ belege ich gerne mit konkreten Beispielen, denn es gibt zahlreiche funktionierende Lösungsansätze. Die indische Organisation „Development Alternatives“ lässt Dorfbewohner über das lokale Wirtschaftsgeschehen mitentscheiden und schafft damit inzwischen 16 Millionen Existenzgrundlagen. Norwegen ist vorgeprescht und erhebt CO2-Steuern auf Verbrennungsmotoren, China hat mit seinem 13. Fünfjahresplan ein erstaunliches Ökologisierungsprogramm verabschiedet, Finnland unterstützt Kreislaufwirtschaftsunternehmen und Deutschlands Energiewende ist international zum Vorbild geworden. Es tut sich was! Über 1.000 Kommunen haben sich weltweit verpflichtet, zu 100 % auf erneuerbare Energien umzustellen und bei neuen Investitionen für Kohlekraftwerke winken inzwischen sogar die Finanzmärkte ab. All diese Beispiele versuchen, eine Balance zwischen Mensch und Natur herzustellen.
Ökologisches, kluges Wachstum wird dann lukrativ sein, wenn der Natur- und Ressourcenverbrauch teurer wird. Hier fehlt es noch am nationalen und länderübergreifenden politischen Willen. Mit Sicherheit muss auch die Überheblichkeit und „Weltferne“ des Kapitals wieder auf ein global und menschenverträgliches Maß gebracht werden. Ethisch-nachhaltiges Investieren heißt eine der vielversprechendsten Entwicklungen. Dass Raiffeisen hier federführend in Österreich und Europa vorangeht, nehme ich mit Freude wahr. Es braucht noch mehr mutige Unternehmen, die sich auf die Wurzeln besinnen, dass nämlich gutes Wirtschaften zutiefst dienend und ermöglichend ist. Getreu dem Motto von Friedrich Wilhelm Raiffeisen: „Was einer nicht vermag, das vermögen viele.“